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zur Eröffnung der Ausstellung "Jörg Kuß - Malerei und Zeichnungen" vom 10. Mai bis 10. Juni 2001 in der Kunsthalle Erfurt, "Renaissance-Saal"
 
Wir leben in einer Welt der schnell bewegten Oberflächen. Blinkende Werbebanner im Netz, Musikvideos und computergenerierte Werbespots bringen unsere Wahrnehmung auf Trab. Diese reagiert gereizt, mit der Folge, doch nur nach immer stärkeren Reizen zu verlangen. "Pop feiert das Flüchtige und das Neue, die Sensation des Gewöhnlichen, den Markt und die Moden", brachte vor kurzem Thomas Assheuer die Phänomene der allgegenwärtigen Popkultur auf den Punkt. Doch die Ästhetik der Beschleunigung stellt sich selbst die Frage, wo Wahrnehmung keine Orientierung und Wertung mehr ermöglicht, der Wahrnehmende vielmehr zum Objekt der bewegten Eindrücke, zum passiven Konsumenten kaum noch zu unterscheidender visueller Reize wird. Es verwundert also nicht, wenn auf dem Höhepunkt der gegenwärtigen Popkultur auch in der Bildenden Kunst die Rufe nach bleibenden Eindrücken, nach verlässlichen Werten wieder lauter werden, wenn sich neben der Slow-Food-Bewegung nun auch das Bedürfnis nach einer verlangsamten, dafür aber intensivierten visuellen Wahrnehmung artikuliert, die einher geht mit einer erneuten Wertschätzung der (wie oft schon totgesagten?) Malerei.
Jörg Kuß ist ein junger Künstler, der sich unbeirrt von kurzlebigen Trends - auch von jenen in der zeitgenössischen Malerei - ganz einer "konservativen" Auffassung von Malerei und Zeichnung verschrieben hat. Als lägen zwischen den mittlerweile klassischen Formulierungen vom Beginn des 20. Jahrhunderts und dem Heute nicht knapp einhundert Jahre, baut und fügt und schichtet er Linien und Farbe zu- und übereinander, macht er das Wahrnehmen selbst zum Gegenstand unserer Wahrnehmung, unseres Genießens. Also ein Roll-back bereits exerzierter Geschichte? Keineswegs; heute so hochgeschätzte Berufungsinstanzen der Malerei wie Gerhard Richter, Per Kirkeby oder Walter Libuda könnten diese Vermutung leicht relativieren, ginge es Jörg Kuß um eine kunsthistorische Absicherung seines Tuns. Doch bleiben derartige Begründungen zweitrangig neben der einen, die für den Künstler zentral ist: die Erfahrung des Bildens, ob malerisch oder zeichnend, selbst zum Gegenstand unserer Betrachtung zu machen. Denn bei aller Erfindungsgabe bleibt das schrittweise Bauen, Fügen und Schichten der Materie zu einem möglichst komplexen und zugleich visuell schlüssigen Eindruck für Jörg Kuß der Punkt, um den sich alles dreht, seine gestalterische Motivation ebenso wie die sinnliche Erfahrung des Betrachters. Das Abenteuer der Malerei offenbart sich bei näherer Betrachtung als ein langer Weg des Verdichtens von visuellen Angeboten. Die Bilder von Jörg Kuß wollen nicht wie das Resultat eines jeweils genialen Handstreichs daher kommen. Vielmehr erklärt der Künstler irgendwann einen Prozess für abgeschlossen, der mit der Farbe, der Struktur und den Materialeigenschaften von Papier und Leinwand begann, denen erste grafische oder farbliche Ideen eingeschrieben werden, Zirkel knüpft jede neue Setzung an das bisher Geschaffene an - ein Balanceakt aus sensibler Beobachtung und adäquater Erfindungskraft. Das kann Tage dauern oder Wochen, oft werden mehrere Werke zur gleichen Zeit, doch mit wechselnder Aufmerksamkeit, der Bearbeitung unterzogen. Schrittweise kristallisieren sich bestimmte Farbstimmungen und Formkontraste, figürliche oder landschaftliche Motive heraus, die Blätter und Leinwände gewinnen ihren unverwechselbaren Charakter. Im selben Maße minimieren sich die Eingriffe, Korrekturen, Ergänzungen, bis die Werke schließlich in die Öffentlichkeit entlassen werden.
Erst die Wahrnehmung, die sich bewusst von Sinnlichkeit der Bildmaterie verführen lässt, um sich anschließend die Zeit zu nehmen, den in die Bilder schrittweise eingeschriebenen Farbwegen und Formzusammenhängen ebenso schrittweise nachzugehen, wird die innere Kohärenz, die Folgerichtigkeit der künstlerischen Entscheidungen erkennen und das von Menschenhand hervorgebrachte Schöne genießen können. - Eine Kulturtechnik, die nicht im Schnellkurs zu erlernen ist. Dass Bilder nicht nur schnelllebige Informationsmedien, sondern ebenso gut auch Fixpunkte unseres Selbst-Bewusstseins und Selbst-Genießens sein können, ist gerade an so "statischen" Kunstwerken wie den bedachtsam gewachsenen Zeichnungen und Ölbildern von Jörg Kuß erneut zu lernen. Hierin liegt ihre Aktualität und zugleich auch ihr Unzeitgemäßes.